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2. September 2022

Gedanken zum Ukraine-Krieg (III)

»Das Fremde erlernen, auf das Eigene nicht verzichten«

Ein Text von dem DTKV-Mitglied Ivan Gotsa



Der Krieg in der Ukraine hat mich persönlich sehr getroffen, da ich dort geboren wurde und meine Eltern in der Ukraine leben. Ich bin zweisprachig aufgewachsen: Wir sprachen in der Familie Ukrainisch, und mit meinen russischsprachigen Freunden unterhielt ich mich auf Russisch. Meiner Meinung nach war das Russische in der Ukraine niemals eingeschränkt. Im Gegenteil – ich hatte stets das Gefühl, dass manche Ukrainer*innen sich schämen, Ukrainisch zu sprechen. Das ist nicht verwunderlich, da der Schlüssel zur ukrainischen Identität, die ukrainische Sprache, in den letzten drei Jahrhunderten auf vielfältige Weise unterdrückt wurde. Im Jahr 1863 wurde die Verwendung des Ukrainischen in gedruckten Werken durch den Emser Erlass des Zaren Alexander II. faktisch im ganzen russischen Kaiserreich verboten. Bücher wurden durch russischsprachige Ausgaben ersetzt; es wurde untersagt, an Schulen und Universitäten auf Ukrainisch zu unterrichten. Auf diese Weise sind viele Menschen durch Unterdrückung russischsprachig geworden.

Als mein Vater für eine gewisse Zeit in Moskau als Vermessungsingenieur arbeitete, besuchten meine Mutter und ich ihn einmal in den Sommerferien. Ich war sieben Jahre alt und konnte zu diesem Zeitpunkt nur Ukrainisch sprechen. Bei einem Museumsbesuch fragte ich etwas meine Mutter auf Ukrainisch. Der Reiseführer hörte es und entgegnete sofort: »Du sollst hier nicht diese Sprache benutzen!« Dabei konnte ich ja noch gar kein Russisch. Bereits als Kind hatte ich das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt.

»Du bist so viele Male ein Mensch, wie viele Sprachen du beherrschst«, sagte der ukrainische Philosoph Grigori Skoworoda. Ich glaube, man sollte tatsächlich möglichst viele Sprachen lernen; allerdings sollte man genauso die Muttersprache pflegen. Um es in den Worten von Taras Schewtschenko, des Vaters der ukrainischen Literatur, zu sagen: »Das Fremde erlernen, aber auch auf das Eigene nicht verzichten.« Während meines Studiums an der Reinhold-Glière-Musikakademie Kyiv lernte ich Deutsch am Kyiver Goethe-Institut. Nach meinem Studienabschluss kam ich als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes zum Aufbaustudium nach Deutschland.

Bereits meine Großmutter wurde 1942 im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten zur Zwangsarbeit nach Nürnberg verschleppt. Man sagt, dass die Geschichte sich wiederholt – aber in meinem Fall in einem positiven Sinne: Ich kam 70 Jahre später nach Nürnberg, um Akkordeon zu studieren. Nach dem Kriegsende 1945 gelangte meine Großmutter zurück in die Sowjetunion und wurde dort als sogenannte »Verräterin der Heimat« für 10 Jahre verurteilt und nach Sibirien geschickt – nur deshalb, weil sie in Deutschland gewesen war und ganz gut Deutsch sprechen konnte. Man fragt sich, wer wirklich gewonnen hat: hat der Gulag über die deutschen Arbeitslager gesiegt? Nun, im 21. Jahrhundert, tobt ein neuer Krieg in Europa, und wieder ist die ukrainische Bevölkerung davon betroffen. Diesmal musste meine Mutter aus der Ukraine fliehen. Mein Vater hingegen hat sich nicht von der russischen Aggression einschüchtern lassen. Er war von Anfang an beteiligt an der Verteidigung der Ukraine. Dies war seine eigene Initiative und Entscheidung, da er als Rentner nicht mehr militärpflichtig ist.

Als Künstler und Akkordeonist tue ich alles Mögliche an der »musikalischen Front« für die Unterstützung meines Heimatlandes. Seit Beginn des Krieges habe ich drei Benefizkonzerte in Deutschland gespielt. Ein Solokonzert in der Evangelischen Kirche Alt-Tegel im April brachte 1.500 € an Spenden ein, die über die Ukraine-Flüchtlingshilfe der Diakonie an Menschen weitergeleitet wurden, die ihre Häuser verloren haben und innerhalb der Ukraine geflohen sind. Dieses Engagement ist für mich besonders wichtig, gerade weil ich nicht vor Ort bin. Nun plane ich weitere Friedenskonzerte für die Unterstützung der Ukraine und wünsche uns allen, dass dieser brutale Krieg schnellstmöglich aufhört.

 

Ivan Gotsa ist klassischer Akkordeonist und freischaffender Künstler. Er stammt aus der Ukraine, wo er bis zu seinem 20. Lebensjahr aufwuchs. Seit fünf Jahren lebt er in Berlin und ist seit 2021 Mitglied im DTKV Berlin.

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