Geschichte des Deutschen Tonkünstlerverbands

Die Notwendigkeit eines organisierten Zusammenschlusses der Musikpädagoginnen und Musikpädagogen äußerte sich just zu einem Zeitpunkt, an dem sich wesentliche politische, gesellschaftliche und künstlerische Einschnitte ereigneten.

1844 war nicht nur das Jahr der ersten Weber-Aufstände in Schlesien, des Erscheinens von Karl Marx' “Pariser Manuskripten” sowie Schopenhauers “Welt als Wille und Vorstellung” und Kierkegaards “Begriff der Angst”, mit anderen Worten das Ende großbürgerlicher Vorherrschaft; gleichzeitig boomte die bürgerliche Musikkultur auf Hochtouren:

Franz Liszt, Sigismund Thalberg und Clara Schumann sorgten für aufsehenerregende Auftritte virtuoser Klaviertechnik, denen Scharen von Elevinnen und Eleven nachzueifern versuchten. Kein Wunder, daß der “Chiroplast”, ein vom Londoner Klavierpädagogen J. B. Logier entwickeltes Gerät zur Erziehung besserer Handhaltung und schnellerer Fingertechnik, reißenden Absatz fand – Robert Schumann ist nur das berühmteste Beispiel eines Musikerinvaliden durch falsches Üben mit dem angepriesenen Apparat.

In dieser Zeit des musikalischen Tempos und übermäßiger Virtuosität durfte auch die Erfindung des Metronoms und der Erard'schen Repetitionsmechanik nicht ausbleiben. Als Paganini mit seiner unglaublichen Violintechnik selbst Liszt zu Selbstzweifeln an seiner Virtuosität veranlasste, war wohl der Höhepunkt der Technikgläubigkeit vollends erreicht.

Es lässt sich unschwer erraten, welchen Bedarf an Musiklehrerinnen und Musiklehrern diese Vorbilder, die ganze Scharen von Lernbegierigen animierten, produzierten, und welcher Missbrauch mit unwissenden Musikschülerinnen und Musikschülern um sich griff.
Berlin war die erste Stadt, in der die Organisation eines Berufsverbandes zum Schutze der ausgebildeten und fundierten Musiklehrerinnen und Musiklehrer tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde.

Seit 1844 hat sich vieles verändert, wenn auch das romantische Bild des schmächtigen, hungernden Klavierlehrers und Komponisten noch nicht restlos aus unseren Köpfen weichen will.
Der Tonkünstlerverband hat in 150 Jahren Arbeit seine Ziele präzisiert und erweitert, das Diktum seiner Gründer jedoch nie aus dem Blickfeld verloren.
Die musikalische Grundausbildung der Laien durch qualifizierte Fachkräfte ist das pädagogische Hauptanliegen, hierzu gehört neben der Pflege der alten und klassischen Musik die Aufführung zeitgenössischer Werke und die Unterstützung der Komponistinnen und Komponisten.

Seit 1963 war hier der Schwerpunkt der Verbandsprojekte das “Studio Neue Musik” mit Präsentationen avantgardistischer Werke und der Vergabe von Auftragskompositionen, sowie und der “Arbeitskreis für Kammermusik” in Zusammenarbeit mit dem DAAD, durch den international bekannte Interpretinnen und Interpreten zeitgenössische Werke zur Aufführung brachten.

Blickt man zurück auf die Persönlichkeiten des Berliner Kulturlebens, die den Tonkünstlerverband gefördert und geprägt haben, so fällt auf, dass es sich in erster Linie um namhafte Interpreten, Hochschullehrer und Wissenschaftler handelte.
Sie alle sahen vorwiegend im Tonkünstlerverband die greifbare Möglichkeit, am musikalischen Bildungsprozess teilzunehmen und mitwirken zu können. Diese Mitwirkung bezog sich nicht nur auf die Ausbildungskonzepte an Musikschulen und Musikhochschulen, sondern vor allem auf die Möglichkeit, Musikerinnen und Musiker sowie Komponistinnen und Komponisten zu fördern, indem man ihnen nicht allein Auftritts- und Aufführungsgelegenheiten verschaffte, sondern auch das gebildete und interessierte Publikum dazu vermittelte.

Das Interesse begabter und gebildeter Laien zu fördern, neben der Herausbildung der jungen Berufsmusiker, avanciert auch heute wieder, angesichts sich leerender Konzertsäle, zum Hauptanliegen der Musikpädagoginnen und Musikpädagogen.
Die Diskussion um Schließungen von Musikschulen, Wegrationalisierung von Orchestern und Opernhäusern wird in dem Moment überflüssig, wo diese vom Publikum gefordert und entsprechend frequentiert werden.
Der Tonkünstlerverband ist unbestritten eines der wichtigsten Organe zur Förderung der Musikkultur: ohne ihn hätten wir keine Wettbewerbe, nur einen Teil der Musikzeitschriften und noch weniger Aufführungen zeitgenössischer Musik.

Nachdem der Tonkünstlerverband die revolutionären Umbrüche des 19. Jahrhunderts und die politischen Repressionen des 20. Jahrhunderts überwunden und überstanden hat, wird er für das 21. Jahrhundert die Zielsetzung haben, breitenwirksame Musikkultur zu fördern und den bestehenden Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts entgegenzusetzen. Dass hierbei die Musikpädagoginnen und Musikpädagogen des Verbands mehr denn je gefordert sind, steht außer Frage.

Adelheid Krause-Pichler